Stellungnahme zum Tod der kleinen Yagmur
Hamburg, 16.01.2014
Der gewaltsame Tod der kleinen Yagmur kurz vor Weihnachten hat die ganze Stadt erschüttert. Auch die Mitglieder des Pflegeelternrates Hamburg sind tief betroffen. Für uns als Pflegeeltern, die tagtäglich mit den Rahmenbedingungen der Jugendhilfepraxis in Hamburg leben, stellt sich eine Reihe von Fragen, denen nachgegangen werden muss.
Wir begrüßen ausdrücklich die zahlreichen neuen und konstruktiven
Veränderungen im Hamburger Pflegekinderwesen, die unter anderem in der
neuen Fachanweisung für die Pflegekinderhilfe Eingang gefunden haben.
Der kleinen Yagmur konnten diese Änderungen leider nicht mehr helfen,
dazu kamen die Neuregelungen, wie etwa zur rechtzeitigen
Perspektivplanung und besseren Abstimmung zwischen den behördlichen
Akteuren, zu spät. Aber auch künftige Pflegekinder können die neuen
Vorgaben nur schützen, wenn diese nicht nur verordnet und in Gesetze
gefasst, sondern von allen am Hilfeprozess beteiligten Fachabteilungen
und Akteuren ideologiefrei und mit Überzeugung gelebt und angewandt
werden.
Unabhängig von den noch nicht vorliegenden Antworten auf Detailaspekte,
die aktuell von der Jugendhilfe-Inspektion untersucht werden, stellen
sich aus Sicht des Pflegeelternrates vor allem folgende Fragen:
1. Wie konnte es geschehen, dass bei einem Säugling, der im Alter von nur wenigen Tagen in eine Pflegefamilie vermittelt wurde, von den Verantwortlichen über Jahre hinweg eine Rückkehrperspektive gesehen und verfolgt worden ist? Die Vorschriften des Sozialgesetzbuches legen hierzu eindeutig fest, dass bei solchen Überlegungen das kindliche Zeitempfinden zugrunde zu legen ist. Einem Kind über einen so langen Zeitraum einen planbaren Lebensmittelpunkt und eine förderliche Lebensperspektive zu verwehren, kann unmöglich mit dem Kindeswohl vereinbar sein.
2. Wie war es möglich, dass im Rahmen der Zuständigkeitswechsel eine
so zentrale Information, wie etwa der Antrag auf Entzug des
Sorgerechtes, aus dem Blick geraten ist?
3. Angesichts der tragischen Todesfälle ist die Frage zu stellen, wie
die auf ihr Wohl bezogenen Rechte von Pflegekindern gegenüber der
Herkunftsfamilie verbessert werden können.
4. Ist es – angesichts der bisherigen Erfahrungen und der Zunahme von Pflegeverhältnissen – nicht an der Zeit, eigene Rechtsnormen im BGB zu schaffen? Diese sollten Rechte und Pflichten von Pflegefamilien regeln, mit deren Hilfe zudem den ohnehin chronisch überlasteten Sozialarbeitern in den Fachabteilungen mittelfristig viel Arbeit durch Detailabstimmungen und Einzelfallentscheidungen erspart bliebe.
5. Wie sollen wir Pflegeeltern unseren öffentlichen Auftrag erfüllen, den uns vom Staat und/oder ihren leiblichen Eltern anvertrauten Kindern ein verlässliches Zuhause zu bieten, ihnen eine Familie zu sein, die für sie einsteht und die sie beschützt, wenn wir so wenig Mitspracherechte im Hilfeprozess haben und machtlos zusehen müssen, wie oftmals am Wohl der Pflegekinder vorbei verwaltet wird?
6. Wie will die Stadt Hamburg sicherstellen, dass die beschlossenen Neuregelungen für das Pflegekinderwesen von den hierfür verantwortlichen Akteuren von ASD, Vormündern und Pflegekinderdienst in ihrer täglichen Arbeit auch aktiv umgesetzt werden? Denn nur hierdurch steigen die Chancen, dass derart dramatische Ereignisse der Vergangenheit angehören werden, und auch kleine Detail-Entscheidungen dem Kindeswohl künftig eher gerechter werden.
7. Wie kann die fachliche Ausbildung – insbesondere die der Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes – verbessert werden, um wesentliche Grundlagen der Bindungs- und Traumaforschung in ihrer täglichen Arbeit zu verankern? In diesem Kontext ist auch eine zusätzliche fachliche Qualifizierung der Familienrichter anzustreben.
Wir wünschen der Jugendhilfe-Inspektion viel Erfolg bei der Suche nach Erklärungen dafür, wie das Wohl eines Kindes wie Yagmur in diesem Maße aus dem Blick geraten konnte und hoffen, dass den vielversprechenden Neuregelungen des vergangenen Jahres nun Taten folgen werden. Senat und Bürgerschaft fordern wir auf, über alle Parteigrenzen hinweg, notwendige Strukturreformen im Jugendhilfewesen vorzunehmen.